Meine 90er

Andreas erzählt, wie er die 90er Jahre musikalisch erlebt hat

Für mich begannen die Neunzigerjahre musikalisch bereits 1988/1989, freilich ohne dass mir das damals bewusst gewesen wäre. Zu der Zeit verbrachte ich ein Austauschjahr in den USA und kam  erstmals mit drei Dingen in Berührung, die für das folgende Jahrzehnt stilbildend sein sollten:

Während mich die beiden letztgenannten (von Tone Loc’s „Wild Thing“ einmal abgesehen) kaum bis gar nicht interessierten, bedeutete MTV in Verbindung mit einer ländlichen Wohnlage sowie der gleichzeitigen Abwesenheit eines Führerscheins und jeglicher öffentlicher Verkehrsmittel meinen Einstieg in die Beschäftigung mit aktueller Popmusik in einem bis dahin nicht erfahrenen Ausmaß. War ich mir zuvor mit meiner Vorliebe für melodischen Rock à la Queen oder Supertramp  noch stets etwas out-of-date vorgekommen, hatte ich plötzlich das Ohr am Puls der Zeit. Als dann die Neunzigerjahre wirklich begannen, taten sie dies für mich erst einmal mit einer Reminiszenz an frühere Zeiten. Nachdem mich das Lied „The Great Song of Indifference“ durch den Sommerurlaub 1990 begleitet hatte – die Berliner Mauer war noch kein Jahr geöffnet, und die Fußballweltmeisterschaft frisch gewonnen – kaufte ich es mir als meine letzte 45er-Single in Vinyl, obwohl im heimischen Wohnzimmer schon seit drei Jahren unter dem Plattenspieler ein CD-Player stand. Sowohl Bob Geldof als auch Vinyl sollten danach für mich lange keine größere Rolle mehr spielen. Dafür begann die Studienzeit. Neue Umgebung, neue Peergroup.

Wenn ich diese Zeit musikalisch revue passieren lasse, fällt mir leider zuerst Meat Loaf ein, der mit „I Would Do Anything For Love (But I Won’t Do That)“, ohne Zweifel einem der kommerziell erfolgreichsten Lieder des Jahrzehnts, regelmäßig aus den Bravo-Kuschelrock-verseuchten Lautsprecherboxen meines ansonsten hochgeschätzten WG-Mitbewohners troff. Jener Meat Loaf, der mich keine zehn Jahre zuvor noch als Eddie in einer vor den Eltern geheimgehaltenen VHS-Video-Session der Rocky Horror Picture Show begeistert hatte! Dann die omnipräsenten Soundtracks der Filme The Commitments am Anfang und Buena Vista Social Club gegen Ende der Neunzigerjahre. Letzterer lief in meiner ersten „eigenen“ Wohnung nach seinem Erwerb mindestens eine Woche lang nonstop, ersteren hörte ich allein schon x-mal vor der Leinwand des nächstgelegenen Programmkinos, danach auf unzähligen WG-Parties.

Vor allem aber R.E.M.  An meinem Studienort gab es keine Kneipe, die auf sich hielt und nicht gefühlt mindestens die Hälfte unsere Nächte mit deren eingängigen, pseudo-melancholischen, pseudo-tiefsinnigen Songs untermalt hätte. „Would you believe, they put a man on the moon“. Irgendwie trafen die vier damals genau unseren Nerv. Wir fühlten uns zu cool für die Dance Hits, zu erwachsen für die Boy und Girl Groups, zu intellektuell für den Deutsch-Hip-Hop – alles Musik, die tagsüber ständig im Radio zu hören war. R.E.M. gab uns das Gefühl, relaxte Individuen zu sein, weder Mainstream noch Avantgarde. Doch auch wenn ich mir damals nie zugestanden hätte, die alltägliche Radiomucke gutzufinden, so muss ich heute zugeben, dass so mancher Hit aus dieser Zeit fast so etwas wie ein Hochgefühl in mir auslöst, wenn er mal wieder unvermittelt aus dem Autoradio tönt. Eingängiges wie „Lemon tree, very pretty, and the lemon flower is sweet / But the fruit of the lemon is impossible to eat“, bei dem ich immer noch darauf warte, dass sich einmal jemand erbarmt und hiervon ein A-Cappella-Arrangement für uns schreibt, Belangloses wie „Join the joyride“, Dramatisches wie „The night train is coming!“ … … „I wanna, I wanna, I wanna, I wanna, I wanna really, really, really wanna zig-a-zig ah“.

Und dann gab es ja noch ein paar – ohne jede Ironie – großartige Balladen, je nach Geschmack von „Torn“ (Natalie Imbruglia) über „My Heart Will Go On“ (Celine Dion), von uns damals respektlos „Gluck-Gluck-Song“ genannt, bis „Nothing Else Matters“ (Metallica). Über Pur breiten wir gnädig den Mantel des Schweigens.

Schließlich war da auch der Beginn einer großen musikalischen Liebe, die bis heute anhält: Heather Nova. Unvergessen die erste Begegnung, irgendwann während der Vorbereitungen auf meine Hauptfachprüfungen: „Now that you’re here – stay with me, light years“. Diese Stimme, spielerisch wechselnd von hauchig über etwas manieriert seufzend bis hin zu klaren bis schneidenden, manchmal fast hysterisch anmutenden Höhen, dann ein paar Takte lang poppig, knackig, bis sich alles wieder in einem Seufzen auflöst. Später irgendwann auch live, nur 30 Minuten, auf einer kleineren Bühne eines Open Air Festivals in Baden-Baden (Hauptact Herbert Grönemeyer), aber was für 30 Minuten! Heather mit ihrer Guitarre, Schlagzeug, Bass, einem Cello. Musik, die das Großhirn links liegen ließ, das Kleinhirn rechts, und mir vom Ohr direkt ins Herz drang. „Maybe an Angel“. Zum Niederknien. Auch so etwas gab es in den Neunzigern …


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